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Das zweite Königreich


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Das zweite Königreich

1. Buch

Dann erschien in ganz England ein Zeichen am Himmel, wie man es nie zuvor gesehen hatte. Manche sagten, es sei der Stern Comet, den man den „langhaarigen“ Stern nennt, und er leuchtete eine ganze Woche lang Nacht für Nacht. Angelsachsenchronik, 1066

Helmsby, März 1064

„Bei Gott, was für ein Treffer, Cædmon! Wer so mit einer Schleuder umgehen kann wie du, kann seinen Bogen getrost verfeuern.“ Dunstan klopfte seinem jüngeren Bruder so kräftig auf den Rücken, daß dieser sich unauffällig mit der Linken auf den Sattelknauf stützte.

Cædmon strahlte, glitt aus dem Sattel und lief die fünfzig oder sechzig Schritte, die ihn von seiner erlegten Beute trennten. Es war ein einjähriger Rehbock. Er lag reglos auf der Seite, auch die Vorderläufe zuckten nicht mehr. Sein braunes Auge starrte in den weißgrauen Himmel hinauf, der noch weitaus mehr nach Winter denn nach Frühling aussah. Auch der Waldboden unter Cædmons dünnen, knöchelhohen Lederschuhen fühlte sich noch hart an. Die alten, dichtstehenden Bäume zeigten nicht den leisesten Hauch von Grün, aber die ersten verwegenen Narzissen blühten im struppigen Gras des Vorjahres.

Dunstan war ebenfalls abgesessen und trat zu seinem Bruder. „Meisterhaft“, wiederholte er und nickte nachdrücklich. „Mitten zwischen die Augen. Ich wette, er war schon tot, ehe er umfiel. Wie machst du das nur?“

Der Junge hob unbehaglich die Schultern und winkte verlegen ab. Dunstan war sechzehn, zwei Jahre älter als er, und für gewöhnlich sehr sparsam mit seinem Lob. „Ich weiß nicht. Ich seh‘ auf den Punkt, den ich treffen will, und hör‘ auf das Singen der Schleuder über meinem Kopf. Und dann „

Dunstan verpaßte ihm eine Kopfnuß der eher sanften Sorte. „Ja, ja. Erspar mir den lehrreichen Vortrag.“

Aber du hast gefragt, dachte Cædmon verständnislos.

„Jetzt ist jedenfalls endlich Schluß mit dem verfluchten Pökelfleisch“, bemerkte Dunstan zufrieden, beugte sich über den Bock und band ihm mit einer dünnen Lederschnur die Läufe zusammen. Dann sah er stirnrunzelnd auf. „Was ist? Hilfst du mir oder hast du Angst, daß dir schlecht wird, wenn du Blut siehst?“

Cædmon seufzte verstohlen, zückte sein Jagdmesser und setzte es dem Bock an die Halsschlagader. Er vermied es, in das tote, braune Rehauge zu sehen.

Wenig später waren sie auf dem Heimweg. Der ausgeblutete Bock lag vor Cædmon über dem Sattel, und das stämmige, gedrungene Pferd trug die doppelte Last ohne erkennbare Mühe. Eine fahle Märzsonne glitzerte auf dem Wasser des Ouse, an dessen östlichen Ufer sie entlangritten. Der Nebel, der sich den ganzen Tag über nicht so recht hatte lichten wollen, war hier am Ufer dichter. Ein paar Eisschollen trieben noch auf dem Wasser, aber der Fluß war schon wieder befahrbar. Ein Lastkahn tauchte vor ihnen aus den dichten Schwaden auf, beladen mit Fässern und Holzkohle. Der Schiffer hielt sein Gefährt mit einer langen Stange in der Strommitte und ließ sich flußabwärts treiben. Als er die beiden Reiter auf dem Uferpfad entdeckte, hob er eine Hand von seiner Ruderstange und winkte ihnen zu. Cædmon winkte zurück.

„Das war Godric“, murmelte er.

„Ich habe Augen“, erwiderte Dunstan trocken.

„Ich hab‘ ihn den ganzen Winter nicht gesehen.“

„Nein, weil er sich den Winter über in seiner Hütte verkriecht wie ein Bär in seiner Höhle, sich von früh bis spät mit Bier vollaufen läßt oder eine seiner zahllosen Schwestern bespringt, bis das Tauwetter kommt und er wieder hinausfahren kann.“

„Dunstan!“ rief Cædmon schockiert aus.

Sein Bruder schnitt eine verächtliche Grimasse. „Entschuldige, Schwesterchen _“

Cædmon schwieg beleidigt. Der Uferpfad verengte sich, so daß sie hintereinander reiten mußten, und das war ihm nur recht. Dunstan sollte ja nicht sehen, daß ihm das Blut in die Wangen geschossen war, und Cædmon drückte seinem struppigen Kaltblüter die Fersen in die Seiten und zog eine Länge vor. Laß ihn nur reden, dachte er. Aber ich war es, der den Bock erlegt hat.

„Sag, Cædmon, jetzt mal ganz ehrlich. Bist du noch Jungfrau?“ fragte Dunstan mit vermeintlichem brüderlichen Wohlwollen. Doch Cædmon hörte das mutwillige Grinsen in seiner Stimme, er brauchte sich nicht einmal umzuwenden, um es zu sehen.

Er errötete schon wieder. Das schien ihm in letzter Zeit ganz besonders häufig zu passieren. Über den Winter hatte sein Körper begonnen, sich auf geradezu bestürzende Weise zu verändern. Er hatte einen ordentlichen Schuß getan und war jetzt ebenso groß wie Dunstan und sein Vater, aber das war es nicht allein. Sein Bartwuchs hatte eingesetzt, seine Stimme veränderte sich, er wurde von Träumen geplagt, an die er nicht denken konnte, ohne wieder aufs neue rot anzulaufen, und all das erschien ihm fremd, machte ihn so unsicher, daß es ihm manchmal vorkam, als lebe er im Körper eines Fremden.

„Antworte, Cædmon“, befahl Dunstan mit der befehlsgewohnten Stimme des Älteren. „Wenn es so ist, wüßte ich, wie wir Abhilfe schaffen könnten. Ehe du auf die Idee kommst, dich an den Schafen zu versuchen.“

Ein neuerliches, empörtes „Dunstan!“ lag Cædmon auf der Zunge, aber er besann sich und wandte lediglich den Kopf, um seinem Bruder einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Doch statt dessen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.

„Heiliger Edmund, steh uns bei ... Reite, Dunstan! Los, komm schon!“

Dunstans Miene zeigte eine Mischung aus Verwunderung und gönnerhafter Belustigung, und statt dem guten Rat zu folgen, wandte er den Blick ebenfalls zum Fluß. „Oh, mein Gott ... Ein Drache!“

Dunstan hatte genug gesehen. Er rammte seinem Pferd die Hacken in die Seiten. Cædmon war schon angaloppiert. Er hörte ein seltsam surrendes Geräusch, wie das Summen einer Hornisse, und zog den Kopf ein. Im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz im linken Bein und schrie entsetzt auf. Sein sonst so gleichmütiges Pferd bäumte sich plötzlich auf, legte die Ohren an und bockte. Cædmon warf sich nach vorn, um im Sattel zu bleiben, doch das Tier wieherte angstvoll, stieg, und dann pflügte Dunstans Pferd in seine Seite. Sie stürzten in einem wirren Durcheinander aus Hufen, Armen und Beinen. Ein harter Stoß traf Cædmon in den Rücken, und er lag einen Moment still, unfähig zu atmen oder sich zu rühren. Wieder erklang das unheilvolle Surren, und er überwand seine Schwäche und kroch auf dem Bauch in das dichte Unterholz neben dem Pfad. Dann lag er still, hielt sein Bein umklammert und lauschte.

Es kam ihm vor, als habe er Stunden so gelegen. Die Stille war beinah vollkommen, nur ganz leise war das Plätschern des Flusses zu vernehmen.

Schließlich sammelte Cædmon seinen Mut und hob den Kopf. „Dunstan?“

Sein Pferd stand nur wenige Schritte entfernt auf dem Pfad. Offenbar war es ein Stück gerannt und dann zurückgekehrt; der Rehbock schleifte am Boden. Dunstans Brauner war hingegen nirgendwo zu sehen, doch sein Bruder selbst lag gleich neben ihm, halb auf dem Uferpfad, halb im Dickicht. Sein Gesicht war Cædmon zugewandt, und was durch die wirren, blonden Haare hindurch davon erkennbar war, wirkte todesbleich. Dunstan lag vollkommen reglos.

„Nein ...“ Cædmon richtete sich halb auf. Ein neuerlicher Schmerz zuckte durch sein Bein, und er sah es zum erstenmal an. Ein kurzer, hellgefiederter Pfeil steckte seitlich in seinem Oberschenkel. „Gott verflucht. Dunstan?“

Sein Bruder regte sich nicht. Cædmon robbte zu ihm hinüber und strich die Haare aus Dunstans Stirn. Dann legte er ihm furchtsam eine Hand auf die Brust. Das Herz schlug gleichmäßig und kräftig. Ein wenig erleichtert untersuchte er den Kopf seines Bruders. Unter dem Haaransatz fand er eine anschwellende Beule. Anscheinend hatte Dunstan einen Huftritt vor die Stirn bekommen. Cædmon rüttelte ihn zaghaft an der Schulter. Nichts.

„Gott, was tu‘ ich denn jetzt nur?“

Er sah auf den Fluß hinaus. Der Drache war verschwunden, zweifellos weiter flußaufwärts gezogen. Cædmon wußte, er mußte nach Hause reiten. Seinen Vater und die anderen warnen.

„Und je länger du hier herumsitzt, um so dunkler und kälter wird es werden“, murmelte er. Unbewußt versuchte er, Dunstans Stimme zu imitieren, denn nichts konnte ihn so dazu anspornen, über sich hinauszuwachsen, wie die Herablassung seines Bruders.

Cædmon zog das gesunde Bein an, biß die Zähne zusammen und stand auf. Doch sobald er das angeschossene Bein mit seinem Gewicht belastete, zuckte der Schmerz bis in die Hüfte hinauf. Als er die wenigen Schritte zu seinem Pferd zurückgelegt hatte, weinte er.

Er umfaßte den Sattelknauf mit beiden Händen und sah im schwindenden Licht an seinem linken Bein hinab. Blut tränkte seine Hosen aus dunklem Wollstoff, der Fleck hatte beinah die gekreuzten Lederbänder erreicht, die seine Waden bis zum Knie umschlossen, und breitete sich weiter aus. Besser nicht hinsehen, dachte er. Er nahm sein geduldiges Reittier am Zügel. „Komm, Beorn. Wir müssen Dunstan nach Hause schaffen.“

Der stämmige Grauschimmel ließ sich willig führen, aber nach drei Schritten mußte Cædmon anhalten. Er hatte bis heute nicht gewußt, daß einem übel werden konnte vor Schmerz. Der Nachmittag war weit fortgeschritten, und es wurde schnell kälter. Trotzdem erschien sein Gesicht ihm heiß. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn, legte dem Pferd den rechten Arm um den Hals und hüpfte auf einem Bein neben ihm her.

Dunstan war nach wie vor besinnungslos. Cædmon beugte sich über ihn und fühlte wieder seinen Herzschlag. Unverändert.

„Oh, Dunstan, werd wach. Bitte, wach doch auf, du verdammter Mistkerl ...“

Aber Dunstan war nicht gerade dafür bekannt, daß er sich nach den Wünschen seiner Brüder richtete. Er zeigte nicht die leiseste Regung. Cædmon sah zum Himmel auf. Er war nicht mehr weiß, sondern dunkelgrau. Ein scharfer Wind hatte sich mit der Dämmerung erhoben und trieb schwere Wolken heran.

„Ja, warum nicht“, murmelte Cædmon bissig. „Das macht jetzt keinen großen Unterschied.“

Er wußte genau, was er tun mußte. Aber im Augenblick fühlte er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen. Fast war es, als könne er den mörderischen Schmerz schon jetzt spüren, und er schauderte unwillkürlich.

„Gott, Dunstan, das werde ich dir niemals verzeihen“, drohte er an.

Er betrachtete das Gesicht seines Bruders, um noch einen kleinen Aufschub herauszuschinden. Es war kein übles Gesicht. Eingerahmt von flachsblonden Locken, eine hohe Stirn, helle Brauen und dichte Wimpern, eine gerade, fast zu schmale Nase über einem noch recht dünnen Schnurrbart und einem um so breiterer Mund, der von Natur aus, sogar jetzt in tiefer Bewußtlosigkeit, zu einem Lächeln neigte, das manchmal gutmütig, öfter aber höhnisch war. Cædmon legte den Kopf zur Seite, seine eigenen, dunkleren Locken fielen ihm dabei ins Gesicht, und rief sich die eisblaue Farbe der Augen ins Gedächtnis.

„Komm, Bruder“, murmelte er seufzend. „Laß uns nach Hause reiten.“

Er schätzte, sie waren noch etwa drei Meilen von Helmsby entfernt. Ausgeschlossen, den ganzen Weg zu laufen. Schon bei dem Gedanken brach ihm der Schweiß aus. Hoffnungsvoll spähte er den Uferpfad entlang, doch von Dunstans Pferd war nirgends eine Spur zu entdecken. Schweren Herzens löste er die Stricke, mit denen sie den Rehbock festgebunden hatten. Mit einem dumpfen Laut fiel der schwere Kadaver zu Boden.

„Die Füchse werden ein Fest feiern“, raunte Cædmon. Er schwang den Strick in der Linken und sah auf seinen Bruder hinab. „Statt dessen werde ich dich heimbringen.“

Er erinnerte sich später nur vage. Er wußte noch, daß er mehrere Anläufe gebraucht hatte, um den schweren, leblosen Körper seines Bruders auf den Rücken des Pferdes zu hieven. Er vergaß, daß er zwischendurch verzweifelte, daß er beinah der Versuchung erlegen wäre, Dunstan liegen zu lassen und Hilfe zu holen. Aber das durfte er nicht. Es wurde dunkel und kalt. Der Wald wimmelte von hungrigen Räubern auf zwei und vier Beinen, selbst der Drache mochte zurückkommen. Cædmon wußte, wenn er Dunstan zurückließ und allein heimritt, würden sie seinen Bruder vermutlich nur noch tot wiederfinden.

Als er den großen Körper schließlich aufs Pferd gehoben hatte, hatte Cædmon das Gefühl, daß seine Kräfte aufgezehrt waren. Er weinte wieder. Er konnte nichts dagegen tun, der Schmerz in seinem Bein war zu übermächtig. Seine Finger erschienen ihm ungeschickt und klamm, als er Dunstans Hände und Füße zusammenband. Dann führte er das Pferd zu einem nahen Baumstumpf, kletterte ungeschickt hinauf und saß auf. Als er den linken Fuß in den Steigbügel stellte und mit seinem gesamten Gewicht belastete, wurde ihm schwarz vor Augen. Hastig schwang er das rechte Bein über den Sattel, nahm die Zügel auf und ritt an.

Inzwischen war es dunkel. Cædmon ließ die Zügel lang und hoffte darauf, daß das Pferd von allein nach Hause finden würde. Er wußte nicht mehr, wo er sich befand. Er saß zusammengekrümmt im Sattel, eine Hand auf der Schulter seines Bruders, und es dauerte nicht lange, bis eisige Regentropfen ihn in den Nacken trafen wie Nadelstiche. Die Welt wurde finster.

„Je zwei Mann Richtung Fluß und nach Norden. Der Rest folgt mir. Aufsitzen!“ Die tragende Stimme übertönte den prasselnden Regen ohne besondere Mühe. „Worauf wartet ihr, na los!“

„Da kommt jemand, Thane“, rief eine junge Stimme aus der Finsternis.

Die Männer, die sich vor dem Pferdestall nahe der Halle versammelt hatten, nahmen die Füße aus den Steigbügeln und horchten hoffnungsvoll. Jetzt konnten sie alle den dumpfen Hufschlag im Morast hören. Eine schemenhafte Pferdegestalt hob sich plötzlich als schwarzer Schatten vor der nächtlichen Dunkelheit ab.

„Wo ist mein Vater?“

„Thane, es ist Cædmon!“

Ælfric, der Thane of Helmsby, ließ die Zügel seines kräftigen Wallachs los und trat auf den Reiter zu.

„Cædmon?“

Der Junge richtete sich im Sattel auf. „Wir hatten einen Rehbock erlegt. Aber dann _ kam ein Drache und _“

„Cædmon, wo ist Dunstan?“ Ælfric legte ihm die Hand auf das linke Bein, und Cædmon wurde ohnmächtig.

Er erwachte mit einem Gefühl vollkommener Schwerelosigkeit, wie er es aus den Träumen kannte, in denen er fliegen konnte. Er kostete das Erlebnis aus, und erst als er auf weichem Grund landete, schlug er die Augen auf.

Sein Vater stand über ihn gebeugt. Er hatte ihn getragen, erkannte Cædmon und sah sich desorientiert um: Er lag auf einem breiten Bett mit Vorhängen aus rauhem, bräunlichem Wollstoff - kein Zweifel, er lag im Bett seiner Eltern. Einen Moment fragte er sich verwirrt, was in aller Welt er hier verloren hatte, doch als er sich regte, spürte er das Bein wieder, und die Erinnerung kam zurück.

„Dunstan ...“

„Es geht ihm gut“, sagte Ælfric beschwichtigend. „Er ist aufgewacht.“

„Vater, es waren die Dänen. Ein Drache kam den Fluß hinauf, und sie haben auf uns geschossen.“

Ælfric betrachtete ihn skeptisch. „Das hat dein Bruder auch behauptet. Ich dachte, er phantasiert. Ein Drachenschiff, Cædmon? Die Dänen haben unsere Küsten schon seit langem verschont, Gott und seinen Heiligen sei Dank, aber wenn sie kommen, dann wenigstens mit zehn Schiffen. Oder mit hunderten. Es muß König Knuts Geisterschiff gewesen sein, das ihr gesehen habt.“

Cædmon wies auf sein abgewinkeltes Bein. „Und nennst du das einen Geisterpfeil?“

Ælfric sah besorgt auf den blutgetränkten Schaft hinab. „Keineswegs. Deine Mutter wird sich darum kümmern. Ich denke, es ist das beste, ich mache mich mit den Männern auf den Weg, um euren Drachen zu erlegen. Wenn das Schiff die Vorhut einer Invasion ist, sollten wir das wissen. Wahrscheinlicher ist, daß es nur Piraten sind.“

„Auf jeden Fall schießen sie gut.“

Ælfric lächelte. „Dunstan sagt, du hattest einen Bock?“

Cædmon nickte. „Ich mußte ihn zurücklassen, um Dunstan nach Hause zu bringen. Dabei hatte er sich so auf den Rehbraten gefreut.“

Sein Vater legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Er war kein Mann, der dazu neigte, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Niemand hätte ahnen können, welche Ängste er ausgestanden hatte, nachdem Dunstans Pferd allein nach Hause gekommen war. Er suchte einen Moment nach Worten, um seinem Zweitältesten zu zeigen, wie dankbar er ihm war. „Du hast es trotzdem richtig gemacht. Wir werden sehen, ob wir deinen Bock auf dem Rückweg finden. Sonst schicke ich Wulfric und Cynewulf in den Wald. Auf keinen Fall können wir zulassen, daß du um deinen Braten betrogen wirst.“

Cædmon verzog einen Mundwinkel zu einem müden Lächeln, und Ælfric wandte sich ab und ging mit langen Schritten zur Tür. Der Junge schloß die Augen und bat Gott, er möge nochmals eine schützende Hand über seine Familie halten und seinen Vater unversehrt nach Hause kommen lassen.

All seine Vorfahren hatten gegen die Dänen gekämpft - die Dänen hatte Gott sich ausgesucht, um die Engländer zu prüfen. Vor langer Zeit hatte der große König Alfred mit den Dänen Frieden geschlossen und ihnen beinah die Hälfte von England überlassen. Die Nachfahren König Alfreds eroberten diese Hälfte Englands, die bis auf den heutigen Tag Danelaw genannt wurde, zurück. Über die Generationen waren die dänischen und englischen Nachbarn miteinander verschmolzen, ihre Sprachen wurden einander immer ähnlicher, so daß die Unterscheidung zwischen Dänen und Angelsachsen nach und nach in Vergessenheit geriet. Es hätte Frieden im Land herrschen können, wären nicht immer wieder neue Dänen gekommen, Wikinger, die nicht auf Land aus waren, das sie besiedeln konnten, sondern auf Beute. Auf Mord und Totschlag.

Doch in den letzten Jahren war es ruhig geworden um die Wikinger. Seit Ælfric seinem Vater als Thane of Helmsby gefolgt war, hatte es keine größeren Überfälle mehr gegeben, weder hier in East Anglia noch anderswo. Und das sei ein Glück, hatte Cædmon seinen Vater sagen hören, denn König Edward sei ein Heiliger, kein Krieger. Cædmon hoffte, das Drachenschiff, das den Ouse hinaufgesegelt war, kündigte nicht das Ende der ruhigen Jahre an. Er hatte keine Zweifel, daß sein Vater und die Housecarls, die in seinem Dienst standen, in der Lage waren, Haus und Hof zu verteidigen. Und auch er selbst und seine Brüder hatten gelernt, ein Schwert, eine Streitaxt und eine Pike zu führen. Von der Schleuder ganz zu schweigen. Trotzdem flößte die Vorstellung von einem neuen Däneneinfall ihm Angst ein. Genaugenommen, mußte er feststellen, erfüllte der Gedanke ihn mit Grauen.

Die hölzerne Tür zu der kleinen Kammer hinter der Halle öffnete sich geräuschlos, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau trat ein. In einer Hand hielt sie eine Wasserschüssel. Sie stellte sie neben dem Bett ab und beugte sich über ihn.

„Comment va tu, mon fils?“

Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, und Cædmon lehnte den Kopf in die Kissen zurück. „Na ja. Wie soll es einem Mann gehen, der gerade mit der Erkenntnis ringt, daß er ein Feigling ist?“

Sie lachte ihr leises, warmes Lachen. „Ein Feigling? Du? Das wäre mir ganz neu. Nein, nein, Cædmon. Du hast ein Herz so groß wie Beowulfs.“ Sie sah kurz auf den gefiederten Schaft in seinem Oberschenkel. „Und das wirst du auch brauchen.“

Cædmon schnitt eine Grimasse und wechselte das Thema. „Was macht Dunstan?“

„Oh, Dunstan ist schon wieder ganz der Alte. Er sitzt drüben in der Halle, einen beeindruckenden Verband um die Stirn und einen vollen Becher vor sich und erfreut die Dienerschaft mit der Geschichte, wie er dich vor den Dänen errettet hat.“

„Ganz falsch“, tönte Dunstans laute Stimme von der Tür. „Er hat sich besonnen und ist gekommen, um euch zu helfen.“

Cædmon hob abwehrend die Rechte. „Verschwinde ...“

Ehe Dunstan widersprechen konnte, öffnete die Tür sich erneut, und die drei übrigen Geschwister schlüpften herein.

„Wir wollten nur kurz nach ihm sehen“, sagte der dreizehnjährige Guthric hastig, um den Vorhaltungen seiner Mutter zuvorzukommen.

Zögernd, ein bißchen ängstlich traten sie auf das breite Bett zu. Als sie den Pfeil und den großen Blutfleck auf dem Bein ihres Bruders sahen, wandte der kleine Eadwig sich abrupt ab und vergrub das Gesicht in den Röcken seiner Schwester.

Hyld legte ihm die Hand auf den Kopf „Wird es gehen?“ fragte sie Cædmon besorgt.

Er rang sich ein Lächeln ab. „Noch besteht jedenfalls kein Grund, die Totenwache zu halten. Schert euch raus.“

Alle vier wandten sich ab, doch seine Mutter rief ihren Ältesten zurück. „Dunstan, dich werde ich brauchen.“

Dunstan blieb stehen, aber Cædmon schüttelte den Kopf. „Ich will Guthric.“

Niemand erhob Einwände. Dunstan führte seine Schwester und seinen jüngsten Bruder hinaus, zog die Tür hinter sich zu, und sie hörten ihn lachen, eine Spur nervös vielleicht.

Guthric war der einzige der fünf Geschwister, der seiner normannischen Mutter wirklich glich. Seine Haare waren glatt und so dunkelbraun, daß sie bei schwachem Licht schwarz wirkten, ebenso dunkel waren seine Augen. Wäre diese offenkundige Ähnlichkeit nicht gewesen, hätte es gewiß Spekulationen über Guthric gegeben. Auch so konnte man die Köchin gelegentlich raunen hören, Guthric sei ein Wechselbalg, ein Feenkind. Er war still, ein Träumer, stundenlang konnte er manchmal draußen im Hof sitzen und den Vögeln lauschen, so als verstünde er ihre Sprache. Vor einiger Zeit hatte Guthric den Wunsch geäußert, nach Ely ins Kloster zu gehen und lesen zu lernen. Sein Vater hatte ihn ausgelacht, und danach war die Angelegenheit nie wieder erwähnt worden.

Cædmon liebte seine Geschwister ausnahmslos, aber alle auf andere Weise. Er bewunderte Dunstans unbekümmerte Verwegenheit, so sehr, daß er ihm seine Derbheit meist verzeihen konnte. Er mochte Hylds Scharfsinn und ihre Großzügigkeit und wie jeder in der Familie vergötterte er seinen kleinen Bruder Eadwig. Aber Guthric stand ihm näher als jeder andere Mensch auf der Welt. Guthric konnte er Dinge anvertrauen, die ihn beschämten, denn Guthric urteilte nie nach allgemeingültigen Grundsätzen. Er hatte ein ganz eigenes Bild von der Welt, ein Bild, das Cædmon nie so recht begreifen konnte, aber das spielte keine Rolle.

Mit einem schwachen Lächeln stieg Guthric auf das hohe Bett, richtete Cædmon ein wenig auf und glitt hinter ihn. „Ich dachte, du wolltest zur Jagd. Mir war nicht klar, daß du dabei an die Rolle des Hirschs gedacht hast“, bemerkte er. Dann griff er unter Cædmons Achseln hindurch und umschloß seine Brust mit beiden Armen. „Fertig.“

Cædmon sank zurück in die so knochige und doch so tröstliche brüderliche Umarmung, blickte starr in den durchhängenden Baldachin hinauf und konzentrierte sich darauf, die hinteren Zähnen fest zusammenzubeißen.

So sah er nicht, daß seine Mutter die Hände hob und die Linke um den kurzen Schaft legte. Dieses Mal zuckte der tückische Schmerz bis in die Schulter, und Cædmon schrie auf.

Marie de Falaise war in kriegerischen Zeiten in der Normandie aufgewachsen und hatte schon als junges Mädchen die Kunst ihres Vaters, der Wundarzt gewesen war, erlernt. Was in der Normandie als ausgesprochen unweiblich galt, hatte hier in England keine besondere Aufmerksamkeit erregt, als Ælfric of Helmsby schließlich mit König Edward aus dem normannischen Exil heimgekehrt war und seine Frau mitgebracht hatte. Ihre Heilkünste hatten dem ein oder anderen in Helmsby das Leben gerettet - Marie hatte sogar einmal einem altgedienten Housecarl nach einem bösen Sturz beim Pferderennen den zertrümmerten Arm abgenommen. Aber bei ihrem eigenen Sohn wurde sie plötzlich zimperlich.

Als Cædmon sah, daß sie den Mut verloren hatte, kehrte seine eigene Entschlossenheit zurück. Er atmete tief durch. „Tu es. Und gebt mir irgendwas, worauf ich beißen kann, sonst stürzt die Halle ein.“

Guthric lachte leise, zog sein Messer aus der Hülle am Gürtel und steckte Cædmon den hölzernen Schaft zwischen die Zähne. Dann verschränkte er die Hände wieder vor seinem Brustkorb.

Marie legte beide Hände übereinander an den Pfeil und zog. Sie drehte nicht, um die Wunde nicht zu vergrößern, ruckte beinah sanft, und der Pfeil gab ein wenig nach. Dann griffen seine Widerhaken wieder in weiches Muskelfleisch.

Der Pfeil muß raus, betete Cædmon sich vor. Er klammerte sich an den Satz, hob ihn wie einen Schild vor sein Bewußtsein. Der Pfeil muß raus, es wird nicht lange dauern, gleich ist es vorbei ... Gott, mach, daß es bald vorbei ist ...

Seine Zähne gruben sich in das Holz des Messergriffs, er krallte die Hände in Guthrics Unterarm, und sein Blickfeld wurde unscharf. Er hörte seine eigenen Schreie nur wie aus weiter Ferne, aber er wurde nicht bewußtlos. Seine Schultern spannten sich an, und Guthric preßte sich dagegen und hielt ihn und versuchte stumm, seine Kraft in seinen Bruder überfließen zu lassen.

Dann zog Marie mit einem letzten Ruck die Pfeilspitze aus der Wunde, und es war vorbei.

„Gut gemacht, Cædmon. Jetzt gib mir das Messer.“ Marie faßt die scharfe Klinge vorsichtig mit zwei Fingern, legte die andere Hand unter sein Kinn und half ihm, denn Mund zu öffnen. „Hier, trink das.“

Er spürte einen Becher an den Lippen und schluckte. Es war starker Wein. Den Geschmack war er nicht gewöhnt und er öffnete verblüfft die Augen. Als sie den Becher absetzte, keuchte er.

Marie gab den restlichen Wein auf ein reines Tuch und drückte es behutsam auf die Wunde. Der Alkohol brannte, aber das war nichts im Vergleich zu dem höllischen Schmerz, den er hinter sich hatte. Er fand das Brennen wirklich leicht zu ertragen. Sein Körper entspannte sich. Während seine Mutter ihm einen Verband anlegte, ließ er sich zurücksinken und löste seinen Klammergriff um Guthrics Unterarm. Seine Nägel hatten blutige Halbmonde hinterlassen.

„Entschuldige, Bruder ...“

Guthric lächelte und stand vom Bett auf. „Komm. Laß uns nachsehen, was die anderen uns vom Essen übriggelassen haben.“

Aber Marie schüttelte den Kopf. „Cædmon bleibt hier und rührt sich bis morgen früh nicht vom Fleck. Das Bein muß ruhig liegen, hörst du?“

Cædmon sah verwundert auf. „Und willst du mit Vater statt dessen in der Halle schlafen?“ erkundigte er sich. Dieses war das einzige Privatgemach. Nur der Thane und die Dame der Halle genossen das Privileg, sich zurückziehen zu können. Ihre Kinder schliefen, sobald sie dem Kleinkindalter entwachsen waren, mit den Housecarls und deren Familien, den Mägden und dem übrigen Gesinde im Stroh auf dem Fußboden der großen Halle.

Marie bedachte Cædmon ob seiner respektlosen Bemerkung mit einem mißfälligen Stirnrunzeln. „Ich denke nicht, daß dein Vater vor morgen früh heimkommt. Und selbst wenn. Für eine Nacht ist hier Platz genug für drei.“

„Dann lasse ich euch etwas zu essen bringen“, erbot sich Guthric.

Cædmon hätte keinen Bissen herunterbringen können. Aber alle weiteren Debatten blieben ihm erspart, denn er war fest eingeschlafen, als die Magd mit Bier und Eintopf kam.

© für die deutsche Ausgabe 1999/2000 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG - All rights reserved. | geschrieben am 17.07.2007 | 4215 Wörter | 22160 Zeichen